Verliebt, verlobt, verheiratet – das Prinzip der Zweierbeziehung ist in unserer Gesellschaft nach wie vor tief verankert. Aber immer mehr Menschen wünschen sich andere Beziehungsmodelle, wie etwa die Polyamorie. Um Enttäuschungen und Eifersucht vorzubeugen, sollten Sie jedoch vorher genau schauen, ob die Gefühle, Motive und Erwartungen beider Partner:innen dabei wirklich kompatibel sind.
Inhaltsverzeichnis
Was ist Polyamorie?
Polyamorie bedeutet, gleichzeitig Liebesbeziehungen mit mehreren Menschen zu führen. Anzahl und Geschlecht spielen keine Rolle. Anders als bei einer offenen Beziehung oder der freien Liebe geht es dabei nicht vordergründig um Sex, sondern um tiefe emotionale Verbundenheit und gegenseitige Verantwortung.
Polyamorie vs. monogame Beziehung
Dagegen werden in klassisch-monogamen Beziehungsmodellen die Suche nach einem festen Partner, der oder die unsere ebenso vielfältigen Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen erfüllt zum Dreh- und Angelpunkt des Lebens. Das erzeugt ordentlich Druck.
Seit wann spricht man von Polyamorie?
Muss das wirklich so sein? Bereits vor fast 70 Jahren haben die Philosophen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir diese Fragen offen gestellt – und erlaubten sich „Zufallslieben“, die ihrer Beziehung nichts anzuhaben vermochten.
In den 60er und 70er Jahren folgte dann die Generation der Freien Liebe. Dabei ging es aber vor allem um das Aufbrechen sozialer und sexueller Konventionen, ganz nach dem provokativen Motto „Wer einmal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“.
Erst zu Beginn der 90er Jahre wurde schließlich der Begriff Polyamorie entwickelt, abgeleitet vom altgriechischen polýs „viel, mehrere“ und dem lateinischen amor „Liebe“.
Polyamorie genauer untersucht
Viel diskutiert, in liberalen Gemeinschaften durchaus auch ausprobiert, aber noch lange nicht breit etabliert, lohnt es sich, das Prinzip “Polyamorie” genauer unter die Lupe zu nehmen.
Was wäre, wenn nicht ein einziger Mensch all unsere Sehnsüchte und Ansprüche stillen muss? Können wir gleichzeitig mehrere Personen lieben? Und welche Vor- und Nachteile bietet Polyamorie gegenüber Offenen Beziehungen und Monogamie?
Die konkrete Ausgestaltung polyamoröser Beziehungen kann sich ganz individuell vollziehen. Wer eine polyamoröse Beziehung eingehen möchte oder gar eine monogame Partnerschaft in Richtung Polyamorie weiterentwickeln will, kommt deshalb nicht umhin, sich tiefgreifend mit dem Thema zu beschäftigen und mit allen beteiligten Partner:innen auszuhandeln, welche gemeinsamen Regeln gelten sollen.
Formen von Polyamorie & Beziehungskonstellationen
Gehen wir zunächst von zwei Partner:innen in einer Beziehung aus, so kann Polyamorie bedeuten, dass beide Partner:innen jeweils eine Liebesbeziehung mit einer oder mehreren weiteren Personen eingehen.
Diese können ebenfalls in einer Liebesbeziehung zueinander oder zum anderen Ursprungspartner stehen – oder auch nicht. So kann es z.B. sein, dass zwei Paare sich entschließen, eine Vierer-Konstellation einzugehen, zu der noch weitere Partner:innen hinzukommen können.
Ebenfalls denkbar ist aber auch, dass nur ein Partner eine oder mehrere zusätzliche Beziehungen eingeht. So wird aus der Zweierkonstellationen eine Dreierkonstellation oder Viererkonstellation, z.B. wenn eine Frau sich in mehrere Männer verliebt. Dabei ist möglich, dass die Männer ebenfalls eine Liebesbeziehung zueinander aufbauen. Es ist aber kein Muss.
Manche Anhänger der Polyamorie legen sich auf einen Hauptpartner fest, mit dem oder der sie eine besonders innige Beziehung führen. Für weitere Personen hegen sie ebenfalls Gefühle, die Bindung ist jedoch nicht ganz so fest.
Natürlich kann es in diesem Kontext auch dazu kommen, dass Kinder entstehen. Ob diese von ihren biologischen Eltern aufgezogen werden oder andere Partner:innen als Zusatz-Mütter und -Väter einbezogen werden, wird ebenfalls von Familie zu Familie ganz unterschiedlich gehandhabt.
Abgrenzung Polyamorie & offene Beziehung
Weil bei Polyamorie immer Gefühle mit im Spiel sein dürfen und sogar sein sollen, ist dieser Beziehungstypus keineswegs „unkomplizierter“ als eine monogame Beziehung, sondern in erster Linie „anders“.
Polyamorie: Vorteile und Nachteile
Mehreren engen Bezugspersonen zärtlich und emotional verbunden zu sein, kann entlastend wirken. Sorgen und Nöte werden gemeinsam aufgefangen, schöne Erlebnisse können sich intensiver anfühlen, wenn sie mit mehreren Personen geteilt werden.
Polyamorie ist entlastend
Ist ein Partner eher introvertiert und verbringt die Abende am liebsten kuschelnd auf dem Sofa, kann ein anderer wiederum der perfekte Begleiter für Abenteuer sein. Niemand in der Dreier-, Vierer- oder Fünfer-Beziehung steht unter Zugzwang, in jeder Hinsicht Präsenz zu zeigen und alles leisten zu müssen. Dadurch kann ein Gefühl großer Gelassenheit und Akzeptanz entstehen, das die Beziehung, aber auch den Alltag aller Beteiligten ungemein entspannt.
Polyamorie ist abwechslungsreich
Auch der Faktor Abwechslung spielt für Menschen, die sich für Polyamorie entscheiden, eine große Rolle. Sie berichten mir in der Paartherapie in meiner Praxis in München häufig davon, dass sich zwischen Arbeit und Familie zu viel Routine in ihre Beziehung eingeschlichen hat. Es fehlt an Spannung und der Distanz, die nötig ist, damit wieder Leidenschaft entsteht.
Polyamorie ist herausfordernd
In einer polyamorösen Beziehung sind demgegenüber naturgemäß mehr Abwechslung und mehr Freiheit vorhanden – das geht aber möglicherweise auch mit einem gewissen Konkurrenzdruck und Eifersucht einher.
Polyamorie braucht Austausch
Um solche Konflikte zu bewältigen, ist ein offener Austausch gerade in polyamorösen Konstellationen unerlässlich. Zu wissen, dass der geliebte Partner nicht nur mit jemand anderem schläft, sondern mit dieser Person auch noch tiefe Gefühle und intimste Momente teilt, ist nicht einfach. Auch ein noch so liberales Weltbild schützt nicht davor, in gewissen Situationen in eine Gedankenspirale und Streit zu geraten.
Definition: Offene Beziehung
Dem gegenüber erscheint eine offene Beziehung fast schon harmlos und unkompliziert. Bei offenen Beziehungen gehen die zwei Hauptpartner:innen Affären ein, bei denen durchaus auch zarte Gefühle entstehen können. Der Austausch mit den zusätzlichen Partner:innen ist aber weniger intensiv angedacht. Richtige Liebe, Verbindlichkeit und Verantwortung sind für sie eigentlich nicht vorgesehen.
Was bedeutet “offene Beziehung”?
Offene Beziehungen sind somit stärker auf den Aspekt der Sexualität ausgerichtet, was aus Perspektive der Polyamorie mit einer gewissen Kälte und Oberflächlichkeit einhergeht.
Regeln in einer offenen Beziehung
Auch bei offenen Beziehungen entscheiden die Partner:innen selbst, welchen Regeln sie sich unterwerfen wollen. Vielen Praktizierenden ist es beispielsweise wichtig, genau über die Aktivitäten und Gefühlslagen ihres Partners im Bilde zu sein. Andere möchten davon wiederum gar nichts wissen.
Insofern kann nicht genug betont werden, wie wichtig es ist, über die Beziehung zu sprechen. Die Grenzen zwischen offener Beziehung oder freier Liebe und Polyamorie sind häufig fließend. Aus einer Affäre kann schnell Liebe werden. Und die lässt sich dann auch nicht weg reden. Paare sollten solche Möglichkeiten vorher einkalkulieren und am besten bereits planen, wie sie im Ernstfall damit umgehen wollen.
Werte und Regeln der Polyamorie
Während polyamoröse Beziehungen heutzutage als liberal und progressiv wahrgenommen werden, sind sie doch tief in der Natur und im Wesen des Menschen verwurzelt. Anthropologische Studien zeigen, dass nur etwa 20 bis 50 Prozent der menschlichen Gesellschaften ursprünglich monogam lebten. Vermutet wird, dass die Zweierbeziehung bzw. Ehe sich erst im Zuge der Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht etabliert hat. Noch heute gibt es vielerorts auf der Welt Kulturen, in denen mehr als zwei Partner als völlig normal gelten.
Ist Polyamorie oder Monogamie normal?
Insofern darf also zurecht infrage gestellt und nach Lust und Laune debattiert werden, ob der Mensch für die Monogamie geschaffen ist oder nicht. Fest steht, Polyamorie kann eine Option sein, um ein erfülltes bzw. erfüllendes Liebesleben zu führen. Sie kann entlastend wirken, bringt aber auch neue Herausforderungen mit sich.
Gegenüber einer Beziehung, in der beide Partner:innen heimliche Sehnsüchte verspüren oder gar fremdgehen, ist eine offen gelebte Polyamorie sicher der bessere – weil ehrlichere – Weg.
Wie kann Polyamorie funktionieren?
Polyamorie funktioniert nur, wenn alle Beteiligten sich bewusst dafür entscheiden und damit einverstanden sind. Das ist jedoch meist nicht von Anfang an so, sondern ein emotionaler Prozess mit vielen Höhen und Tiefen.
Was ist wichtig für Polyamorie?
Die wichtigste Basis für Polyamorie ist Liebe. Hinzu kommen gegenseitiges Vertrauen und Selbstvertrauen sowie regelmäßige offene Gespräche, bei denen alle einbezogen werden.
Als Paartherapeut in München helfe ich Ihnen gerne weiter, wenn Sie Fragen zu alternativen Beziehungsformen haben.
Vereinbaren Sie ein Beratungsgespräch in der Praxis für Paartherapie in München.
Polyamorie: Bücher
Şeyda Kurt: Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist
Enorm wichtige und zeitgemäße Orientierungshilfe für diejenigen Menschen, die ausgetretene Pfade im Liebesdschungel verlassen wollen.
Eva Illouz: Warum Liebe wehtut
Beschreibt die gesellschaftlichen Umstände, die unser Liebesleben determinieren. Erklärt die Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der hochreflektierten, autonomen, postmodernen Individuen.
Imre Hofmann und Dominique Zimmermann: Die andere Beziehung – Polyamorie und Philosophische Praxis
Ob und wie unterschiedliche Beziehungsstile möglich sind, wird hier lebensnah und philosophisch zugleich, betrachtet.
Friedemann Karig: Wie wir lieben – vom Ende der Monogamie
Ein spannendes Buch darüber, wie viele Menschen heute lieben wollen.
Dieter Duhm: Der unerlöste Eros
Perspektiven für eine Lebensweise, in der Zweierliebe und freie Liebe sich nicht länger ausschließen. Freie Liebe wird hier verstanden als eine Liebe frei von Lüge, Verdrängung, Angst und Gewalt.
Polyamorie – Herzen zwischen Erfolg und Hoffnung: Biographische Analysen nicht-monogamer Beziehungen
Masterarbeit zum Thema Polyamorie auf der Basis biographischer Interviews.
FAQ: Polyamorie
Sie interessieren sich für Polyamorie oder möchten Ihre Beziehung für weitere Partnerschaften öffnen? Oder Sie befinden sich bereits in einer polyamorösen Beziehung und wissen nicht, wie Sie am besten mit bestimmten Konflikten umgehen? Folgende Fragen werden zum Thema Polyamorie besonders häufig gestellt:
Ist Polyamorie natürlich?
Zwei oder mehr Personen zu lieben, ist definitiv natürlich. In vielen Weltregionen gelten Beziehungen, an denen mehr als zwei Partner teilhaben, bis heute als völlig normal. Außerpartnerschaftliche Beziehungen kommen übrigens auch im Tierreich vor, unter anderem bei den uns artverwandten Bonobos.
Kann man mehr als einen Menschen lieben?
Ja, definitiv. Im familiären Kontext machen wir alle diese Erfahrung. Gleichzeitig ist es normal, verschiedene Menschen auf unterschiedliche Art zu lieben. Das kann auch bedeuten: den einen mehr und den anderen weniger.
Ist Polyamorie in Deutschland erlaubt?
Polyamorie ist in Deutschland erlaubt. Mehrere Partner zu heiraten, ist jedoch nicht möglich.
Was ist der Unterschied zwischen Polygamie und Polyamorie?
Das Wort Polygamie bedeutet „Vielehe“. Ob dabei Liebe im Spiel ist, sei dahingestellt. Bei Polyamorie wird der Gefühlsaspekt betont. Sowohl Mann als auch Frau können mehrere Partner lieben.
Welche Vorteile bietet Polyamorie?
Bei Polyamorie dürfen Gefühle für mehrere Partner und Partnerinnen offen gelebt werden. Alle Beteiligten übernehmen Verantwortung füreinander. Sorgen und Nöte werden auf mehrere Schultern verteilt. Langeweile und Routine ist vorgebeugt.
Welche Nachteile bietet Polyamorie?
Polyamorie verlangt von allen Beteiligten ein relativ hohes Maß an Selbstbewusstsein, Gelassenheit und sozialer Kompetenz. Ansonsten sind Eifersucht und Streit vorprogrammiert. Wer mit mehreren Personen schläft, setzt sich zudem einem höheren Ansteckungsrisiko bei sexuell übertragbaren Krankheiten aus.
Wie überzeuge ich meinen Partner oder meine Partnerin von Polyamorie?
Ihre Beziehung für Polyamorie zu öffnen, kann nur gelingen, wenn Sie beide wirklich davon überzeugt sind, dass Sie mit den einhergehenden Herausforderungen zurechtkommen. Setzen Sie sich gemeinsam mit dem Thema auseinander und geben Sie Ihrem Partner Zeit. Im Zweifelsfall lassen Sie sich gern in meiner Praxis für Paartherapie in München beraten.
Sie können gerne online einen Beratungstermin vereinbaren.
Erstellungsdatum:
21.09.2020
Autor:
Markus Breitenberger, Paartherapeut und Sexualtherapeut in München und Autor von zahlreichen Fachartikeln und Blogbeiträgen zu Themen rund um Gesundheit und Paarbeziehung. Experte für Paarberatung bei diversen Zeitschriften.